Staatliche Hinweisgebersysteme: Stasi 4.0 oder alter Wein in neuen Schläuchen?

Baden Württemberg hat ein digitales Hinweisgeberportal freigeschaltet und damit breite öffentliche Diskussionen entfacht. Eine Einordnung.

„Bürger sollen Nachbarn denunzieren: Grünen-Minister führt Steuer-Stasi ein“

DIE BILD

„Anonymes Hinweisportal: Grüner Landesfinanzminister fordert zum Melden von Steuersündern auf“

DER SPIEGEL

„Portal gegen Steuerbetrug: Anschwärzen beim Finanzamt“

DIE FAZ

„Steuerbetrugsmeldeplattform: Das Onlineportal, das die Gemüter erhitzt“

DIE ZEIT

Die Wellen schlugen hoch, als das Land Baden-Württemberg kürzlich ein digitales, anonymes Hinweisgeberportal freischaltete. Doch wenn sich der Nebel legt, relativiert sich vieles. So auch hier.

Zwar handelt es sich bei der neuen Meldeplattform um das bundesweit erste anonyme Hinweisgebersystem für Finanzämter; die Möglichkeit zu anonymen Hinweisen bei den Steuerbehörden gibt es jedoch längst. Diese Vorgehensweise ist gelebte Praxis, ob man dies nun befürwortet oder nicht. Wirklich neu ist nur, dass neben der Meldung per Telefon, E-Mail oder Brief nun ein zusätzlicher, digitaler Weg für eine Anzeige existiert. Die Möglichkeit der anonymen Anzeige per se gibt es wahrscheinlich schon so lange, wie es Steuern gibt.

Entgegen anderslautenden Assoziationen soll das neue anonyme Hinweisgebersystem der Steuerverwaltung Baden-Württemberg nicht bezwecken, dass Bürger ihre Nachbarn „denunzieren“. Es geht gerade nicht um die öffentliche Übermittlung von Anzeigen an die Steuerverwaltung. Vielmehr eröffnet dieses anonyme Meldeportal sog. Whistleblowern (= Hinweisgebern) zusätzliche Möglichkeiten. Durch das neue Hinweisgebersystem können diese künftig auch digital, sicher und trotzdem anonym und diskret mit der Steuerverwaltung kommunizieren.

Immer wieder „Brüssel“: EU Whistleblower Richtlinie verpflichtet öffentliche Stellen

Das Portal in Baden-Württemberg ist insbesondere vor dem Hintergrund zu sehen, dass staatliche Hinweisgeberportale bald gesetzliche Pflicht sind und anonyme Meldeportale dieser Art auch in weiteren Bundesländern in naher Zukunft freigeschaltet werden. Die Grundlage dieser neuen gesetzlichen Pflichten ist, um im Duktus der oben zitierten Schlagzeilen zu bleiben, wieder einmal: „Brüssel“. Bereits seit Dezember 2019 ist die EU-Whistleblower Richtlinie in Kraft. Die Mitgliedsstaaten müssen die Richtlinie bis zum 16. Dezember 2021 in nationales Recht umsetzen. Da die Richtlinie konkret genug und unbedingt ist, entfaltet sie in weiten Teilen unmittelbare Wirkung auf Kommunen, staatliche Stellen und Unternehmen sowie sonstige Organisationen, die über 50 Mitarbeiter:Innen zählen.

Verpflichtung zur Einrichtung staatlicher Hinweisgebersysteme

Um Hinweisgeber effektiver zu schützen und sicher auch, um den Druck auf privat-wirtschaftliche Organisationen (also vor allem Unternehmen), Kommunen ab 10.000 Einwohnern und öffentliche Unternehmen zu erhöhen, sind staatliche Stellen angehalten, eigene Hinweisgeberportale bereitzustellen. Hinweisgeber haben die Wahl, ob sie sich mit Hinweisen zuerst an die eigene Organisation wenden oder ob sie direkt und ohne „Vorwarnung“ an staatliche Stellen melden. Ein Beispiel einer solchen staatlichen Stelle ist das nun in der Diskussion stehende anonyme Hinweisgeberportal in Baden-Württemberg.

Empfehlungen für betroffene Organisationen

Die betroffenen Organisationen sollten sich bereits jetzt Gedanken über eine Antwort auf die neuen staatlichen Hinweisgeberportale und die Whistleblower Richtlinie machen. In der Folge sollte zügig mit einer Implementierung eines internen Hinweisgebersystems begonnen werden. Es müssen seitens der Unternehmen Anreize geschaffen werden, dass mögliche Hinweisgeber sich zuerst an das eigene Unternehmen wenden. Nur so können Interna auch intern bleiben. Potentielle Hinweisgeber sollen sich nicht an ein Hinweisgebersystem einer Behörde oder gar die Öffentlichkeit wenden. Klar ist: Wer kein eigenes Hinweisgebersystem betreibt, bietet seinen Mitarbeitern keine Alternative zur externen Meldung.

Autoren: Dr. Maximilian Degenhart & Nicole Habersetzer, Hinweisgeberexperte.de

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